Sanktionsmaßnahmen der Europäischen Union gegen völkerrechtswidriges Verhalten von Vertragspartnern
Am 20. Mai 2025 haben 17 der 27 Außenminister der EU-Mitgliedstaaten dafür gestimmt, das Assoziierungsabkommen mit Israel1) durch die EU-Kommission aufgrund der Vorgänge in Gaza überprüfen oder auszusetzen zu lassen (siehe hier). Bereits vorher gab es vergleichbare Äußerungen des ehemaligen Hohen Vertreters für die Außen- und Sicherheitspolitik (vgl. hier und hier).
Auch nach der russischen Vollinvasion in der Ukraine im Februar 2022 wurde erörtert, ob das Assoziierungsabkommen zwischen der EU und der Ukraine die EU rechtlich zum Erlass restriktiver Maßnahmen gegenüber Russland verpflichtet. Das Partnerschafts- und Kooperationsabkommen mit der Russländischen Föderation war damals bereits aufgrund der Ereignisse des Jahres 2014 weitgehend ausgesetzt (siehe EuGH C-72/15 – Rosneft).
Diese Situationen werfen erneut die Frage auf, ob und wie die EU auf Rechtsverletzungen von Vertragspartnern zu reagieren hat. Auch wenn der Union diesbezüglich ein weiter Spielraum zukommt: untätig bleiben darf sie bei schweren Völkerrechtsverstößen nicht.
Menschenrechtsklauseln in Assoziierungsabkommen
Assoziierungsabkommen nach Art. 217 AEUV stellen die engste Form einer Partnerschaft zwischen einem Drittstaat und der Europäischen Union dar. Moderne Abkommen enthalten neben Marktöffnungsklauseln auch einen politischen Teil, welcher unter anderem die Einhaltung des Völkerrechts und der Menschenrechte durch die Vertragspartner verlangt.
So schreibt Artikel 2 des Assoziierungsabkommens mit Israel vor, dass „die Beziehungen zwischen den Vertragsparteien ebenso wie alle Bestimmungen des Abkommens (…) auf der Achtung der Menschenrechte (… beruhen), von denen die Vertragsparteien sich bei ihrer Innen- und Außenpolitik leiten lassen und die ein wesentliches Element dieses Abkommens sind.“ Streitigkeiten bezüglich der Erfüllung von Vertragsklauseln sind, außer in dringenden Fällen, dem Assoziationsrat vorzulegen. Ansonsten „kann“ jede Vertragspartei „geeignete Maßnahmen“ treffen, wenn sie der Ansicht ist, dass die andere Vertragspartei den Verpflichtungen nicht nachgekommen ist (Art. 79 Abs. 2 AA Israel).
Die Klauseln im späteren Assoziierungsabkommen mit der Ukraine sind elaborierter und dem Wortlaut der EU-Verträge angenähert. Dessen Artikel 2 lautet:
„Die Achtung der demokratischen Grundsätze, Menschenrechte und Grundfreiheiten, wie sie insbesondere in der […] Allgemeine[n] Erklärung der Menschenrechte der VN und die Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, festgelegt sind […]. Die Förderung der Achtung der Grundsätze der Souveränität und territorialen Unversehrtheit, Unverletzlichkeit der Grenzen und Unabhängigkeit […] sind ebenfalls wesentliche Elemente dieses Abkommens.“
Diese Grundsätze werden durch Art. 7, 9 AA Ukraine nochmals bestärkt. Die Wortlautgegenüberstellung zeigt bereits den weiteren Regelungsbereich des AA Ukraine auf, welches im Gegensatz zum AA Israel nicht nur die Gewährleistung menschenrechtlicher Verbürgungen enthält, sondern ausdrücklich auch die territoriale Unversehrtheit umfasst.
Der durch den Vertrag von Lissabon eingeführte Art. 21 EUV, welcher über Art. 23 EUV und Art. 205 AEUV sowohl für die intergouvernementale als auch für die supranationale Unionsebene gilt, schreibt vor, dass die Union sich bei ihrem Handeln auf internationaler Ebene von den Grundsätzen leiten lässt, die für ihre eigene Entwicklung maßgeblich waren, wozu die Menschenrechte und die Achtung der Grundsätze des Völkerrechts gehören.
Allerdings unterfallen Gegenmaßnahmen der EU, worunter hauptsächlich Sanktionsmaßnahmen zu verstehen sind, der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (Art. 24 ff. EUV). Ihre Beschlüsse sind nicht nur einstimmig zu fassen, sondern überdies, wenn die unionalen Handlungen oder Unterlassungen unmittelbar mit den politischen oder strategischen Entscheidungen der GASP in Verbindung stehen (EuGH, C-29/22 P und C-44/22P – KS & KD, Rn. 116), der Jurisdiktion des EuGH entzogen. Erst anschließend werden sie durch einen weiteren Ratsbeschluss aufgrund von Art. 215 AEUV Bestandteil des supranationalen Unionsrechts.
Einschränkung des Ermessens der Mitgliedstaaten
Die freie politische Entscheidung der Mitgliedstaaten über das außenpolitische Tätigwerden wird durch die „Kann-Regelung“ des Ergreifens von Gegenmaßnahmen (vgl. z. B. Art. 79 AA Israel) vertragsrechtlich durch die genannten Assoziierungsabkommen umgesetzt. Die Ermessensentscheidung der im Rat oder Europäischen Rat handelnden Mitgliedstaaten könnte jedoch durch völkerrechtliche Verpflichtungen eingeschränkt werden. Die Union würde nicht völkerrechtskonform handeln, wenn sie Völkerrechtsverstöße der Vertragspartner „sehenden Auges“ unbeantwortet lässt, da sie zur Einhaltung der Grundsätze des Völkerrechts verpflichtet ist. Hierfür ist allerdings erforderlich, dass eine völkerrechtliche Pflicht zum Tätigwerden vorliegt; die bloße Verletzung einer vertraglich begründeten Verpflichtung reicht aufgrund des Ermessenscharakters der vertraglichen Sanktionsnorm nicht aus.
Über Art. 21 EUV heranzuziehende völkerrechtliche Handlungspflichten können sich jedoch aus dem allgemeinen Völkerrecht ergeben. Hier ist vor allem an dem zwingenden Völkerrecht angehörende Vorschriften mit erga omnes-Wirkung zu denken. Weit überwiegend wird angenommen, dass das Gewaltverbot und der Völkermord (hierzu jüngst Ambos/Bock) zu diesem Kreis zu zählen sind, schwerwiegende Verletzungen der Menschenrechte wohl nicht. Der Grundsatz der Schutzverantwortung (responsibility to protect) bei schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen erscheint völkerrechtlich noch nicht zu einer materiellen Rechtsnorm verdichtet zu sein, so dass sich hieraus keine Verpflichtung zum Tätigwerden ergeben dürfte.
Folgen für die EU-Mitgliedstaaten
Die EU-Mitgliedstaaten sind unionsverfassungsrechtlich verpflichtet, Unionsprimärrecht einzuhalten. Die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik ist ebenfalls Bestandteil der Verfassungsarchitektur der Verträge (EuGH, C-29/22 P und C-44/22P – KS & KD Rn. 68) und die Grundsätze der Unionsrechtsordnung gelten auch im Bereich der GASP. Zu den Grundsätzen der Unionsrechtsordnung gehört auch die loyale Zusammenarbeit des Art. 4 Abs. 3 EUV, die Einhaltung des Völkerrechts ist bereits über Art. 21, 23 EUV verbürgt.
Daraus folgt im Ergebnis eine Berücksichtigungspflicht der völkerrechtlichen Rechtslage für die politische Entscheidung der Mitgliedstaaten im Rat oder Europäischen Rat, wenn eine Vorschrift des zwingenden Völkerrechts im Anwendungsbereich eines Assoziierungsabkommens verletzt ist. Das Ermessen wird insoweit auf „völkerrechtskonformes Tätigwerden“ reduziert und eine Verdichtung der Entscheidung herbeigeführt. In der Folge stellt bereits bloßes Nichttätigwerden oder Nichtäußern der Union einen primärrechtlichen Verstoß dar (siehe die vom IGH aufgestellten Kriterien für das Handeln im Falle von Völkermord: hier Rn. 430). Innerhalb der Verpflichtung zum Tätigwerden verbleibt den Unionsorganen zwar noch ein weiter Entscheidungsspielraum, welcher jedoch durch Bestimmungen von Assoziierungsabkommen wie Art. 9 AA Ukraine oder Art. 1 Abs. 2 5. Spiegelstrich Interimsassoziationsabkommen Palästina (Herstellung von Stabilität in der Region) eingeschränkt werden kann. Dieser Spielraum und das Tätigwerden als solches gehört jedoch dem strategischen und politischen Kernbereich der GASP an, so dass eine gerichtliche Überprüfung durch den EuGH (Art. 24 Abs. 1 UAbs. 2 S. 6 EUV) nicht möglich erscheint. Anders ist es, wenn die Verdichtung zu einem vom jeweiligen Vertragspartner geltend zu machenden Verstoß gegen eine Bestimmung eines Assoziierungsabkommens führt, dann wäre der vertraglich vorgesehene Streitbeilegungsmechanismus heranzuziehen. Im Falle Palästina ist hierbei zu berücksichtigen, dass gemäß Art. 2 Interimsabkommen ebenfalls die Wahrung der Menschenrechte ein wesentliches Element des Übereinkommens darstellt. Die oben aufgestellten Grundsätze gelten auch hier.
Fazit
Art. 21 EUV verpflichtet die EU zu völkerrechtskonformem Handeln. Im Falle schwerster Völkerrechtsverletzungen durch einen Vertragspartner der EU verdichtet sich das in freiem Ermessen stehende Recht zum Ergreifen einer Gegenmaßnahme zu einer Pflicht. Die Union darf dann nicht untätig bleiben. Die getroffenen Gegenmaßnahmen gegen die Russische Föderation und Belarus erfüllen diese Voraussetzung. Inwieweit ein Tätigwerden gegen eine oder mehrere Parteien des Gaza-Konflikts erforderlich ist, ist von der völkerrechtlichen Beurteilung abhängig. Allerdings schränkt die Verpflichtung nur das „Ob“ des Tätigwerdens ein, hinsichtlich des „Wie“ steht der EU im Rahmen des außenpolitischen Tätigwerdens ein weiter Spielraum an möglichen Äußerungen oder Handlungen zu.