In einer am 7. August veröffentlichten Stellungnahme teilte Frauke Brosius-Gersdorf ihre Entscheidung mit, für die Wahl als Richterin des Bundesverfassungsgerichts nicht mehr zur Verfügung zu stehen. Damit endete nicht nur eine politische Hängepartie für die schwarz-rote Koalition, sondern kulminierte auch eine teils sehr heftig und unfair geführte Debatte über die inhaltlichen Positionen und Qualifikationen von Frauke Brosius-Gersdorf. In einer Demokratie für ein öffentliches Amt zu kandidieren und sich damit einer Wahl zu stellen, ist immer eine Herausforderung und verdient per se genauso Respekt wie die Entscheidung, von einer solchen Kandidatur aus politischen Gründen zurückzutreten. Gleichzeitig wirft die Erklärung von Brosius-Gersdorf bei mir zumindest in drei Punkten Fragen auf.
Menschenwürde- und Grundrechtsdogmatik
Brosius-Gersdorf rügt, dass in der öffentlichen Auseinandersetzung – wohl insbesondere in Beiträgen der F.A.Z. – vor allem ihre Ergebnisse zum Recht des Schwangerschaftsabbruchs und weniger ihre dahinterstehende Argumentation und dogmatische Begründung behandelt worden seien. Zumindest was die Motivation derjenigen Abgeordneten der CDU/CSU-Fraktion angeht, die lange vor dem Aufkeimen rechtsgerichteter Berichterstattung Zweifel an einer Wahl von Frauke Brosius-Gersdorf angemeldet hatten, bin ich mir da nicht so sicher. Die öffentliche Debatte hat durchaus eine unangemessene Engführung auf die Positionen Frauke Brosius-Gersdorfs zum Recht des Schwangerschaftsabbruchs erfahren, die im Ergebnis alles andere als extrem von der gegenwärtigen Rechtslage abweichen und einen völlig vertretbaren Standpunkt im breiten Angebot der rechtswissenschaftlichen Meinungen darstellen. Gerade aber die grundrechtsdogmatische Begründung ihrer Positionen würde ich als sehr weitgehend charakterisieren und ihr damit das Potential für erhebliche Veränderungen dafür zuschreiben, wie wir die Grundrechte bislang auslegen und anwenden. Brosius-Gersdorf konstatiert in diesem Zusammenhang in ihrer Erklärung ein Dilemma, das bestünde, wenn man dem Nasciturus Menschenwürde zuspricht:
„Da die Menschenwürdegarantie nach herrschender Meinung nicht abwägungsfähig ist, wären bei Geltung der Menschenwürdegarantie für den Embryo ab Nidation Konflikte mit den Grundrechten der Schwangeren nicht lösbar. Ein Schwangerschaftsabbruch wäre dann unter keinen Umständen rechtmäßig, auch nicht bei Gefährdung des Lebens der Frau. Es ist aber bestehende Rechtslage, dass ein Abbruch bei medizinischer (§ 218a Abs. 2 StGB) und kriminologischer (§ 218a Abs. 3 StGB) Indikation legal ist. Die verfassungsrechtliche Lösung kann denklogisch nur sein, dass entweder die Menschenwürde abwägungsfähig ist oder für das ungeborene Leben nicht gilt.“
Das überzeugt mich nicht. Hier wird eine Aporie konstruiert, die keine sein muss, um letztlich wahlweise die Geltung der Menschenwürde für das ungeborene Leben oder ihre Unantastbarkeit im Sinne einer Abwägungsresistenz zu beseitigen. Dass der Schwangerschaftsabbruch – der ja nicht hoheitlich erfolgt – eine Verletzung der Menschenwürde auch in den bereits heute legalen Fällen darstellt, ist keinesfalls zwingend. Einen solchen Standpunkt nimmt auch das Bundesverfassungsgericht bislang nicht ein. Und Brosius-Gersdorf selbst vertritt in dem von ihr mitverfassten Bericht der Kommission zur reproduktiven Selbstbestimmung und Fortpflanzungsmedizin (S. 185 f.) die Auffassung, im Schwangerschaftsabbruch liege nicht notwendig eine Würdeverletzung.
Ist die Auseinandersetzung mit Brosius-Gersdorfs Menschenwürde- und Grundrechtsverständnis also in Wirklichkeit ein praktisch irrelevantes Glasperlenspiel? Kommt es etwa gar nicht darauf an, ob man grundrechtlichen Lebensschutz und Menschenwürde voneinander entkoppelt, wie es die Potsdamer Staatsrechtslehrerin am Beispiel der Ungeborenen anregt? Ist die ganze Aufregung umsonst?
Mitnichten. Dass zulässige Beeinträchtigungen des grundrechtlichen Lebensschutzes nicht notwendig die Menschenwürde verletzen, ist eine Binse: Unter bestimmten (extremen) Umständen dürfen Hoheitsträger und sogar auch Private (etwa durch Notwehr) Menschen töten, ohne dass deren Würde verletzt wird. Daher soll man die Menschenwürde auch beim Lebensschutz nicht in kleiner Münze auszahlen, wenn sie ihre Funktion als ultimative Eingriffsgrenze, als Markierung einer unverfügbaren menschlichen Sphäre oder auch als „Tabu“ (Ralf Poscher) behalten soll. Dass Brosius-Gersdorfs Grundrechtsdogmatik womöglich von überschaubarer praktischer Relevanz für den Anwendungsfall des Schwangerschaftsabbruchs ist, unterstreicht vielmehr, dass die Fokussierung auf diesen Aspekt die Debatte wohl eher verunklart hat.
Es lohnt sich daher, den Blick zu weiten: Ob der Embryo Träger einer abwägungsresistenten Menschenwürde ist, ist etwa für die verfassungsrechtliche Beurteilung der embryonalen Stammzellforschung bedeutsam, bei der die Konfliktlage eine völlig andere als bei einer Schwangerschaft ist: Nicht nur gibt es hier keine Kollision mit dem Selbstbestimmungsrecht der Mutter, sondern auch die Gefahr eines rein funktionalen Zugriffs auf das menschliche Leben und damit dessen Degradierung zum bloßen Objekt ist als denkbare Menschenwürdeverletzung greifbarer. Hielte das Bundesverfassungsgericht die Menschenwürde wiederum allgemein nicht für abwägungsfest, wäre seine Entscheidung zum Luftsicherheitsgesetz und der staatlichen Befugnis, entführte Flugzeuge abzuschießen, wohl anders ausgefallen. Und wenn man meint, den grundrechtlichen Lebensschutz von der Menschenwürdegarantie trennen zu können, wie es Brosius-Gersdorf am Beispiel ungeborenen Menschenlebens in den Raum stellt, begründet man nicht nur die grundrechtliche Kategorie des würdelosen Lebens – man bricht auch mit der herrschenden Grundrechtsdogmatik, wonach jedes Grundrecht einen unantastbaren Kernbereich verbürgt, die einzelnen Grundrechte also Entfaltungen der Menschenwürde sind und Art. 1 Abs. 1 GG dorthin ausstrahlt. Hält man es schließlich – wie Brosius-Gersdorf – für kategorisch denkbar, den Würdeschutz nur in Abstufungen und damit notwendig einhergehend, nur unter bestimmten Bedingungen (welche?) zuzubilligen, liegen die möglichen Weiterungen auf der Hand: Wenn die Menschenwürde nur noch unter Vorbehalt bestimmter Voraussetzungen gilt, was könnte das – weiter gedacht – für kranke, alte und behinderte Menschen bedeuten? Man kann Brosius-Gersdorf in diesem Zusammenhang keine finsteren Absichten unterstellen, aber sollte gleichwohl nicht den Blick auf das große Ganze verlieren, wenn man die Grundrechtsdogmatik in fundamentalen Punkten umkrempeln will. Eine sachliche Auseinandersetzung mit Brosius-Gersdorfs wissenschaftlichen Auffassungen zu Grundrechten und Menschenwürde muss daher im demokratischen Diskurs ihren Platz haben.
Schmutzkampagnen
Zu Recht beklagt Brosius-Gersdorf in ihrer Stellungnahme die Schmähungen und Diffamierungen, denen sie in den letzten Wochen von Seiten der rechtsextremen AfD, ihr nahestehenden Medien und Meinungsmacher wie auch in den sozialen Medien ausgesetzt war. Die Debatte um ihre Kandidatur ist weitestgehend entgleist. Dafür tragen allerdings auch Kräfte der politischen Linken nicht unerheblich Verantwortung, die undifferenziert alle, die Kritik an Brosius-Gersdorfs Positionen anmeldeten, als Teil dieser Schmutzkampagne verunglimpften. Wer eine gewisse Binnensicht auf die Entwicklungen in der Unionsfraktion hat, konnte wissen, dass hier nicht durchgeknallte MAGA-Heads unter Führung eines sinistren Jens Spahn am Werk waren, wie gerne insbesondere in grünen Kreisen kolportiert wurde. Vielmehr war es eine ganze Bandbreite durchaus konservativer, aber eben auch eher linker CDU/CSU-Abgeordneter, darunter viele von ihnen kirchlich sozialisiert, die Zweifel an Brosius-Gersdorfs Kandidatur anmeldeten. Sie unterschiedslos mit Rechtsextremen in einen Topf zu werfen, wird den allermeisten von ihnen nicht gerecht. Die große politische Fehlleistung Jens Spahns liegt vielmehr darin, die internen Bedenken zunächst nicht ernst genommen und deshalb nicht rechtzeitig mit dem sozialdemokratischen Koalitionspartner gesprochen zu haben. Dass für die Fraktionsführung in der Außenwahrnehmung letztlich dubiose Plagiatsvorwürfe den Ausschlag gaben, als sie die Richterwahl in letzter Minute abbrach, hat der Union einen schweren politischen Schaden bereitet, für den Jens Spahn – wie er selbst inzwischen eingeräumt hat – maßgeblich verantwortlich ist. Damit spielte er der rechtsextremen AfD in die Hände, die sich weder um die Menschenwürde noch um Frauke Brosius-Gersdorf schert, sondern die Union als Partei der Mitte vor sich hertreiben und letztlich zerstören will. Es ist zwar bis zu einem gewissen Maß verständlich, dass auch die linke Opposition dieses Debakel zu nutzen sucht, um die politische Karriere des Unionsfraktionschefs zu beenden. Wer aber diejenigen, die im Einklang mit der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts lediglich an der bisherigen Rechtslage zum Schwangerschaftsabbruch oder auch nur der herrschenden Grundrechtsdogmatik festhalten wollen, als rechtsextreme Demokratie- und Frauenfeinde framet, trägt selbst zu maßloser Polarisierung und Zerstörung der politischen Mitte unserer Republik bei.
Wissenschaftsfreiheit
Frauke Brosius-Gersdorf beklagt in ihrer Stellungnahme, die Unionsfraktion habe durch ihre „Nichtwahl“ ihre Wissenschaftsfreiheit „sanktioniert“. Das ist jedenfalls ein irritierendes Missverständnis. Abgeordnete sind nur ihrem Gewissen unterworfen (Art. 38 Abs. 1 GG). Es gibt kein Recht darauf, zur Richterin am Bundesverfassungsgericht gewählt zu werden, auch wenn die SPD einen vorgeschlagen hat. Folglich ist auch Brosius-Gersdorfs Wissenschaftsfreiheit nicht sanktioniert, wenn Teile der Unionsfraktion nicht bereit sind, ihr zur notwendigen Stimmenmehrheit zu verhelfen. Diese Entscheidung ist weder eine rechtliche noch eine wissenschaftliche, sondern genuin politisch. Dass es hier ein erhebliches Störgefühl bei der Unionsfraktion geben würde, kam für Kenner der Materie nicht überraschend: So heißt es in einer von Brosius-Gersdorf verfassten Passage des letztjährigen Kommissionsberichts zur Reform des § 218 StGB, die Begründung des bislang herrschenden Verständnisses der Menschenwürdegarantie sei „von einem bestimmten Menschenbild abhängig, das selbst nicht zwingend das einzig richtige oder wahre ist“ (S. 182). Implizit räumt sie damit wohl ein, sich nicht dem Menschenbild verpflichtet zu fühlen, das für das bisherige Grundrechtsverständnis des Bundesverfassungsgerichts maßgeblich ist. Derlei fundamentale Unterschiede wird man kaum als Nebensächlichkeit abtun können. Ob die vorgebrachten Zweifel an Brosius-Gersdorfs Positionen es rechtfertigen, sie nicht zu wählen und damit einen erheblichen Konflikt in der Regierungskoalition in Kauf zu nehmen, ist deshalb eine politische Frage, die man mit guten Argumenten höchst kontrovers diskutieren kann – ein Eingriff in die Wissenschaftsfreiheit ist es nicht.